Kapitel 2

2. Zwillingsherz


Ehrfürchtig berührten meine Finger sie wie Schätze. Was gäbe ich nicht alles, einmal mit den Augen ihrer Schreiber sehen zu dürfen. Ganz gleich, welches der Bücher auch durch meine Hände glitt, sie erzählten von einer Welt, die vor einhundert Jahren für immer untergegangen war. Die sagenhaften Wunder verblassten im Laufe dieser Zeit und verschwanden aus den Köpfen der Menschen. Man konnte es ihnen nicht einmal verdenken, denn wie oft stellte ich mir selber die Frage, ob ein Teil davon nicht einen Deut zu bunt umschrieben wurde. Bereits in meiner frühesten Kindheit zog es mich hin zu den Geschichten aus der alten oberen Welt. Wen wunderte es da, dass ich nächtelang der Realität, an völlig fremde Orte entfloh. Es gab in meinem Heim nicht ein einziges Werk, das ich nicht schon zum fünften oder sechsten Mal in meinen Händen hielt. Viel, viel zu selten kam es vor, dass sich ein Neues darin verirrte und wie maßlos neidisch machte es mich da zu wissen, dass es einst so zahlreich viele Bücher gab, dass ein Einzelner sie hätte niemals lesen können.
Die Enge hier unten holte mich stets dann wieder ein, wenn meine Blicke an den trostlosen Wänden auf und ab wanderten. Zwar unterbrach das eine oder andere Bild mit farbenprächtigen Motiven die kahle Felswand, doch riss mich das immer nur für wenige Momente aus meiner eintönigen Umwelt.
Noch immer standen die randvoll gefüllten Kartons in den Ecken. Sie erinnerten mich daran, dass sie sich vom Träumen allein keinesfalls leeren würden. Mein neu bezogenes Heim sah bisher ganz und gar nicht wohnlich aus. Auf dem Schreibtisch lagen kreuz und quer alte Schriften, über denen ich am Abend zuvor eingeschlafen war. Der Nacken sprach noch immer Bände von dessen harter Tischplatte. Mein Blick schweifte hinüber zu dem Ort, an dem das Bett stand. Den Platz hätte ich mir auch schenken können in dem ohnehin viel zu überfüllten Raum, da die letzte Nacht, nicht die Ausnahme, sondern zur Regel geworden war. Doch es war nicht das Bett, was ich mied, es waren die Träume meiner Kindheit, die mich jede Nacht verfolgten. Sie begannen vor knapp acht Jahren, als meine Zwillingsschwester Davina im Alter von 9 Jahren plötzlich unerwartet verstarb.

>>>Der Traum begann jedes Mal damit, dass ich meine Augen fest geschlossen hielt, weil mich etwas furchtbar blendete. Es fühlte sich warm auf der Haut an und verursachte ein leicht wohliges Kribbeln, doch es verwehrte auch die Sicht auf das, was vor mir lag. Die Luft roch so völlig anders, anders als jemals zuvor in meinem Leben. Selbst wenn ich es versuchte, könnte ich es mit Worten nicht beschreiben.
Ich stand hier mit zwei weiteren Personen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Eine der Stimmen war mir so bekannt, dass es fast mein Herz zerriss, als ihr die ersten Worte über die Lippen rannen. Krampfhaft versuchte ich wieder die Augen zu öffnen, doch dieses blendende Licht hinderte mich mit aller Macht daran. Ich kämpfte dagegen an, jedoch ohne Erfolg, mehr als schwache Konturen ließen sich einfach nicht erkennen. So blieb mir nichts anderes übrig, als jedem ihrer Worte weiter zu folgen, möglicherweise würde sich ja die Situation so erklären. Jetzt drang auch die zweite Stimme deutlicher an mein Ohr. Jene hingegen vernahm ich noch niemals zuvor. Ihren Klang empfand ich als sanft und warmherzig. Stück für Stück bekam ich mit, worüber sich die beiden Frauen unterhielten. Ihre Art, miteinander umzugehen, ließ mich vermuten, dass sie sich heute zum ersten Mal begegneten.
»Es ist aufregend, diesen Moment mitzuerleben«, sprach die sanfte Stimme.
Mein Gegenüber griff, anstatt ihr eine Antwort darauf zu geben, nach meiner Hand, was sofort einen Sturm an Gefühlen in mir auslöste. Ich hatte mich in ihr nicht getäuscht. Diese Berührung war mir so vertraut, dass es sofort Tränen in meine Augen trieb. Wie viele unsagbar lange Jahre waren vergangen seit jenen Kindertagen. Wie sehr hatte ich sie jeden einzelnen Tag davon vermisst.
»Lasst uns, trotz alle dem, den Ernst der Lage nicht aus den Augen verlieren«, mahnte die sanfte Stimme. »Unsere Wege werden sich fürs Erste wieder trennen müssen.«
»Ja Alißa, ich weiß, das Volk der Nims wartet bereits an der Schwelle zu Biors Welt, doch ohne Tychon, ohne euch ...«<<<
An dieser Stelle riss der Traum jede Nacht aufs Neue ab. Und bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht sicher, ob das nicht mein vorherbestimmter Weg sein könnte. Denn im Laufe der Zeit erhielt ich in manchen Büchern Hinweise darauf, dass winzige Stücke meines Traums aus der alten oberen Welt stammen müssten. Doch so sehr ich auch nach jenen Namen forschte, es führte mich stets ins Nirgendwo.
*
Ich darf mich an dieser Stelle erst einmal vorstellen.

Mein Name ist Nytrax, allerdings nennen mich die meisten meiner Freunde der Einfachheit halber Ny.
Die vielen Bücher erklären meinen Wissensdurst sicher schon von ganz allein. Jedoch besitze ich sie noch aus einem anderen Grund, denn bereits seit meinen Kindheitstagen konnte ich mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dieses Zuhause für den Rest meines Lebens zu akzeptieren. Es musste doch möglich sein, jener Enge zu entfliehen.
Als ich einige Jahre zuvor anfing, nach neuen Lebensräumen zu suchen, träumte ich von fernen Planeten. Jedoch war ich aus diesen Kinderschuhen längst herausgewachsen. Viel zu lange hatte ich meine Augen vor dem verschlossen, was zum Greifen nah war. Ich musste doch nur einen Schritt hinaus in die alte Welt wagen, von der wir uns einst selbst verbannten, als ein Meteor, halb so groß wie der Mond, Kurs auf die Erde nahm. Er sollte sie keineswegs direkt berühren, versicherten damals viele Wissenschaftler. Aber niemand konnte vorhersehen, dass sich die Gravitationskräfte des Mondes so stark auf dessen Flugbahn auswirken würden. Viel zu spät, um es noch abwenden zu können, sah man dann dem Untergang nur untätig entgegen und hoffte, es verschlänge den Erdball nicht im Ganzen. Es zerriss die beiden Himmelskörper, als der Meteorit auf dem Mond einschlug.
Der Eintrittswinkel lag zwar seitlich zur Erde gerichtet, sodass die Trümmer sie nicht sofort trafen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sie auf indirektem Weg zerstörten. Das war das Ende der Welt, so wie Generationen sie kannten. Eine Katastrophe jagte fortan die Nächste, da ihr Mond und der Meteorit bei der Kollision in tausende Splitter zerbrachen und diese nun um die Erdumlaufbahn schwebten. Dort sollten sie jedoch nicht gebunden bleiben. Sie traten rings um den gesamten Globus immer wieder in die Atmosphäre ein und ließen Meere zu Bergen auftürmen, die mit ihrer Wucht an den Küsten schwere Verwüstungen anrichteten. Noch schlimmer war es, wenn sie auf direktem Wege Städte trafen. Es kam nicht darauf an, ob es riesige Metropolen wie New York, Paris, London oder winzige Dörfer waren. Die meisten dieser herabfallenden Splitter besaßen einen Durchmesser von mehreren Metern. Es war völlig unwichtig, was sie trafen, sie zerstörten auf ihrem Weg alles Leben. Von nun an galt nur noch das Gesetz des Stärkeren, jegliche Art von Gesellschaftsform zerbrach. Damit aber nicht genug. Ganze Landstriche verdunkelten sich, weil der aufgewirbelte Staub bis in die Stratosphäre stieg und sich so verbreitete. Die Erde, nur knapp einer totalen Zerstörung entgangen, steuerte geradewegs einer neuen Eiszeit entgegen. Wenige, viel zu wenige Überlebende, trafen die einzig richtige Entscheidung, sich von der Erdoberfläche abzuwenden, da ihr Ende längst besiegelt war. Ihnen blieb nur noch, sich wie Mäuse ins Erdinnere zu verkriechen. Und so geschah es, dass fünf Menschen in der schwersten Stunde der Erdgeschichte das Leben von mehreren hunderttausenden Einwohnern verschiedenster Nationalitäten einer italienischen Großstadt retteten. Sie nahmen alles, was sich irgendwie tragen ließ, mit in ihre neue unterirdische Welt, bevor sie diese für die nächsten Jahrzehnte endgültig hinter sich verschlossen.
Und genau ihre Mitbringsel, Bücher, Pläne bedeutender Erfindungen ließen mich im Laufe der Zeit den Mut fassen, wieder in ihre Welt vorzudringen.

Wie viele Tage und Nächte ich bereits in diese Idee steckte, konnte man beim besten Willen nicht mehr zählen. Aber alles fing damit an, dass sich ein Senatsmitglied in meiner Gegenwart verplauderte. Er erzählte mir von einer geheimnisumwitterten Tür, nicht weit von hier, die in eine andere Welt führte. Meine Neugier war natürlich sofort geweckt. Was meinte er mit den Worten, »andere Welt«, dass wir uns vielleicht am Rande eines Meeres befanden? Denn etwas anderes konnte ich mir unter dem Begriff »Welt« überhaupt nicht vorstellen. Dem Senat jedoch eine Antwort in diese Richtung abzuringen, war nicht einfach, aber am Ende siegte meine Hartnäckigkeit. Sie gaben mir jedoch gleich zu verstehen, dass dieser Weg nicht ohne Grund, wenige Jahre nach dem man unsere Höhlen fand, wieder verschlossen wurde. Aber ich war mir sicher, sobald sie erst einmal meine Pläne auf dem Tisch liegen hätten, würden sie ihre Sichtweise schon ändern. Unsere Erfindung würde die Meeresströmung in Energie umwandeln und diese wiederum würde ein weiteres Bauteil nutzen, um ein Gitterfeld zu speisen, das aus Kunstfasern besteht. Unseren Berechnungen zufolge sollte das Stromfeld darin ausreichen, um das Wasser an diesen Stellen zu verdrängen.
Ich sortierte fein säuberlich jedes Blatt Papier, denn heute war der große Termin, es dem Senat vorzulegen. Ich bin zwar nicht auf den Mund gefallen, doch sollte ich mir besser Unterstützung mitnehmen, dachte ich. Schnell war ein Faden um das Blätterbündel geschnürt, welches ich mir dann sogleich unter den Arm klemmte und gedanklich schon fast vor der Tür meines Freundes stand.
Wie oft hatte ich mich schon gefragt, was für einen merkwürdigen Gesellen ich da meinen Freund nannte. Coren war, wie schon so oft, wieder nicht anzutreffen. Ich hatte ihn in einer ruhigen Minute einmal darauf angesprochen, wo er sich denn an solchen Tagen, wie heute, herumtrieb. Medina sei doch mit seinen siebenundzwanzig größeren und kleineren Höhlen, und wenn’s hochkam, allenfalls siebzig auf und ab wandernden Gängen, nicht so riesig, um darin wie vom Erdboden zu verschwinden. Jedoch legte er jedes Mal nur sein verschmitztes Lächeln auf und meinte, das sei und bleibe vorerst noch sein Geheimnis.
Also gut, dann stehe ich einmal mehr ohne meinen Kameraden da, vielleicht hätte ich besser einen anderen aus meinem kleinen Team fragen sollen. Aber egal, ich würde es auch allein schaffen, den Senat für unser Projekt zu begeistern. Mehr als »ja« sagen können sie eh nicht. Ein »Nein« würde ich mit diesen Plänen unter meinem Arm sowieso nicht akzeptieren.
Auf dem Weg zum Senat erschienen mir die Wände der Gänge noch enger als sonst. Auch ihre Decke war mir im Laufe der Jahre näher und näher gekommen. Mag sein, dass darin mein Ansporn lag, die Höhlen eines Tages verlassen zu wollen.
Je weiter ich meinem Ziel entgegen kam, desto mehr verschwand jene beklemmende Enge, da die Höhlen hier im Zentrum Medinas um ein vielfaches größer waren. Mein Blick fiel auf die Fenster des einzigen Hauses an diesem Platz.
Merkwürdig, dachte ich, war ich zu früh oder warum brannte kein einziges Licht darin? An der hölzernen Pforte hing ein eiserner Ring mit einem bronzenen Löwenkopf. Ich packte den Kopf und schlug ihn vier Mal kräftig dagegen, jedoch ohne Erfolg. Was ist heute nur los? Erst Coren, nun auch noch der Senat! Plötzlich schreckte ich aus meinen Überlegungen hoch. War da nicht gerade ein Geräusch? Kam es aus dem Labyrinth der vielen Gänge rund um den Platz oder doch aus dem Haus vor mir? Ich vermochte es nicht zu sagen.
Mehrere Minuten stand ich regungslos lauschend davor. Nein ich musste mich geirrt haben. Am besten lasse ich das Bündel hier auf den Stufen liegen, dachte ich. Wer weiß, wie lang ich sonst noch auf die Mitglieder des Senats warten müsste. Doch kaum waren meine Schritte in den Gängen verhallt, da öffnete sich leise jene Pforte und ein Schatten huschte daraus hervor. Sich weder nach links, noch rechts umschauend, packte er nur mein Bündel und schloss geschwind, ohne jedes Geräusch, die Pforte hinter sich wieder ab. Wäre ich nicht schon in den Gassen verschwunden gewesen, hätte ich deutlich die Blätter meines Bündels rascheln gehört. Es schien sich jemand, der unerkannt bleiben wollte, im Verborgenen für unser Projekt zu interessieren.
Es gingen merkwürdige Dinge seit einigen Monaten in Medina vor sich!