Kapitel 1

1. Aus der Asche …


»Die Menschheit war in einen hundertjährigen Schlaf gefallen.«
So könnte man jedenfalls ihre Hilflosigkeit in Worte kleiden. Dabei fehlte es ihnen nur an Fantasie, um zu verstehen, dass ihre Welt aus weit mehr als Wasser, Luft und Erde bestand. Dies allein würde sie zwar nicht mehr zu dem machen, was sie vor langer Zeit einmal gewesen ist, doch es könnte den wenigen Überlebenden neue Hoffnung schenken.

Die samtgrünen Kapuzen waren so tief in ihre Gesichter gezogen, dass die rabenschwarze Nacht kaum mehr als Konturen von ihnen übrig ließ.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte einer der Fünf.
Deutlich hörbar nahm der Flügelschlag jedes Einzelnen zu. Sie mussten den Feuervogel unbedingt noch vor seiner Geburt und dessen Aufstieg erreichen, ansonsten wären er, seine Stadt und alles Leben auf dem Planeten bald schon in größter Gefahr.
»Ian«, rief Finn hinter sich und nahm den Genannten ins Auge, »wenn du weiter so bummelst, können wir es gleich lassen.
»Du weißt schon, welchem Wesen wir unser Anliegen darbringen?«
»Ja, dem Hüter der namenlosen Stadt oder Phönix, wie ihn die unwissenden Menschen nennen«, antwortete Ian.
Dabei war unwissend das falsche Wort. Sie kannten hoch am Himmel ihre Sonne, genauso die Legende des ewig in sich wiederkehrenden Phönix‹ und waren somit gerade mal einen Steinwurf weit davon entfernt, ihre Erde, nein, sogar ihre ganze Geschichte neu zu schreiben.
Angekommen an der Höhle eines der wohl mächtigsten Wesen dieser Welt traten fünf Paar Füße geräuschlos in den weichen, sandigen Boden. Eine der Wachen erwartete sie bereits unweit des Eingangs. Mit einer Handbewegung, die Eile gebot, deutete er der Gruppe, rasch einzutreten.
Was für ein Wesen, durchfuhr es Ian bei dem Anblick des Phönixwächters. Allein dessen Statur würde doch bereits jeden ungebetenen Gast daran hindern einzutreten.
Wie unvorstellbar mussten Biors Kräfte also sein, dass es ihm beinah gelang, das Crypt, an den Wachen vorbei, zu erreichen. Hätte er es in dem richtigen Moment berühren können, stiege der Phönix als schwarze Kreatur in die Lüfte auf, um seine eigene Stadt zu vernichten.
Ian vermied es, als erster an der Wache vorbeizugehen. Ob es Angst oder Respekt war, mochte er sich selbst nicht eingestehen.
Die Zweite im Inneren sie war der Vorherigen wie aus dem Gesicht geschnitten, stand mitten in der Höhle und verbarg ganz offensichtlich etwas hinter ihrem Rücken. Zwischen den Füßen ließen sich Teile eines mystischen Kreises erkennen. Ians Frage, wann es denn so weit sei, beantwortete sich von selbst in einem schrillen Kreischen. Sie waren keine Sekunde zu früh erschienen. Staub wirbelte ringsherum auf, obwohl man diesen nirgends zuvor in der Höhle liegen sah. Langsam erkannte Ian seinen Irrtum. Es war keineswegs gewöhnlicher Staub. Ihm fiel wieder die Geschichte des Phönix‹ ein, zur Asche…. aus der Asche.
Nun spielte sich alles rasend schnell vor ihren Augen ab. Der Wächter trat in jenem Moment zur Seite, als der Raum anfing, sich mit Licht zu füllen. Das ist typisch für diese Welt, dachte Ian. Inmitten des mystischen Kreises stand zu seiner Enttäuschung ein ganz banaler Brunnen. Er hatte sich unter dem Crypt etwas Spezielleres vorgestellt. Alle Dinge oder Orte, von denen außergewöhnliche Kräfte ausgingen, sahen so gewöhnlich aus, dass Unwissende einfach daran vorbeigehen mussten.
Jetzt schwoll das schrille Kreischen ab und wurde von einem zaghaften Piepsen abgelöst. Wie auf Kommando nahmen beide Wächter eine kämpferische Haltung ein, als müssten sie jenen Brunnen vor der Gruppe schützen. Finn sah erschrocken drein und wich einige Schritte zurück, was ihm die anderen daraufhin gleich taten. So hatte sich Ian die erste Begegnung mit dem Feuervogel nicht vorgestellt.
Finn erkannte seinen fragenden Blick und kam ihm zuvor: »Zum Zeitpunkt seiner Geburt ist der Phönix besonders verletzbar. Kein Wesen, das mir bekannt wäre, könnte sich dem Crypt in diesem Moment nähern, ohne es mit dem Leben zu bezahlen. Die Wächter erhalten augenblicklich unvorstellbare Kräfte, die zwar nur für wenige Sekunden anhalten, dennoch würden sie ausreichen, ein Heer unserer Art auszulöschen.«
Zu weiteren Erklärungen kam er nicht mehr. Das gerade noch piepsende kleine Wesen wuchs mit rasender Geschwindigkeit zu dem mächtigen Feuervogel heran. Das Ausbreiten seiner Schwingen wirbelte in der gesamten Höhle den vermeidlichen Staub, die Phönixasche auf.
Ian sah, wie Finn seine Flügel genau im selben Moment ausbreitete und mit einem riesigen Sprung den Ausgang der Felsengrotte erreichte. Da er sich aber nur auf ihn konzentriert hatte, war ihm das, was sich hinter seinem Rücken abspielte, völlig entgangen. Die Höhle war längst dabei, sich in ein kreisendes Feuermeer zu verwandeln. Das Nächste, was er dann vernahm, war das Flappen eines Flügelschlags unmittelbar hinter sich. Es geschah so furchtbar schnell, dass schon ein nachfolgender Gedanke bereits den Tod bedeutet hätte. Jedoch verschaffte ihm sein Reflex, sich zu Boden zu werfen, den nötigen Raum, nicht im Feuersturm des vorbeirasenden Phönix zu sterben.
Totenstill lag sie mit einem Mal wieder da, die Höhle. Nicht einmal die umherfliegende Asche war geblieben. Einzig und allein den gewöhnlichen Brunnen ließ der Feuervogel in seiner Einsamkeit zurück.
Was war aus Finn geworden? In welcher Gefahr er schweben musste, wurde nun auch dem letzten Beteiligten bewusst. Zwar hatte er die Höhle noch vor dem Phönix verlassen, doch würden seine Kräfte ausreichen, mit ihm Schritt zu halten? Als Wächter des mächtigsten Relikts hielt ihn nichts und niemand davon ab, am Tag seiner Wiedergeburt die namenlose Stadt auf schnellstem Wege wieder zu erreichen.
*
»Du bist mutig«, zischte ihn der Feuervogel zynisch an. »Was in deinen Augen ist so wichtig, um sich mir auf diese Weise in den Weg zu stellen?«
Finn, der bereits nach wenigen hundert Metern schon mit seinen Kräften kämpfen musste, sagte: »Ich bitte dich, unterbrich deinen Flug nur für einen Moment, Phönix.«
Doch der dachte nicht einmal im Traum daran, ganz im Gegenteil, er wirbelte mehrere Male um seine eigene Achse, als könne er ihn so abschütteln. Finn hatte mit keiner anderen Reaktion gerechnet, kannte er sie doch gut, diese eitlen Mächte jener Welt. Geschickt seinem Wirbeln entkommen fand er sich in dessen alles verbrennenden Feuerschweif wieder. Wäre er nicht selbst eines dieser tausend Jahre alten Wesen, hätte es ihm wahrscheinlich mehr als nur die Flügel angesengt.
»Lass den Unsinn und hör mir zu!«, schrie er ihn zornerfüllt an.
Doch innerlich fühlte er bereits die aufkommende Ohnmacht seiner Kräfte. Wenn ich jetzt versage, werden wir keine zweite Chance bekommen, dachte er und stemmte sich mit all seinem Willen dagegen.
»Ist dir das Ende allen Lebens wahrhaftig so gleichgültig? Ja selbst dein Eigenes?«
Er hätte ihm am liebsten einen Flügel ausgerissen, wäre er nicht das mächtige Wesen Phönix. Zu seinem Glück war er nun endlich zu dem Feuervogel durchgedrungen, sodass er seinen Flügelschlag verlangsamen konnte.
»Warum sagst du nicht einfach, was du willst und verschwindest wieder?«, züngelte es flammend aus dem Schnabel des Feuervogels.
»Hätten wir eine Kreatur namens Bior nicht daran gehindert, dein Crypt zu berühren, stündest du jetzt kurz davor, deine eigene Stadt zu zerstören«, sagte er und verfehlte damit seine Aufmerksamkeit nicht.
»Sprich weiter!«, forderte er.
Finn holte aus.
»Wir beide wissen sehr gut, was du dort oben in deiner Stadt beschützt. Doch sollte es jemandem gelingen, dich in diese schwarze Kreatur zu verwandeln, dann muss ein anderer deine Stadt vor dir beschützen und dafür solltest du dir einen Menschen auserwählen.«
Seine Worte waren kaum verhallt, da setzte schon schallendes Gelächter seitens des Phönix‘ ein. Dem Feuervogel traten die Augen fast aus dem Kopf, so weit riss er sie auf.
»Was ist denn in den letzten tausend Jahren mit deinem Verstand geschehen?“, verspottete er Finn.
Doch dieser sprach unbeirrt weiter. „Dann sind dir also die Veränderungen der Erde entgangen? Das Fehlen des Mondes? Der bevorstehende Untergang der gesamten Menschheit? Klar, so etwas übersieht man schon mal in seinem tausendjährigen gedanklichen Vor-Sich-Hin-Dösen.«
Diese zynischen Worte hatte er noch nicht ganz ausgesprochen, da schleuderte ihn der Flügel des Phönix‘ mit aller Gewalt durch die Luft. Am Rand seiner körperlichen Grenzen angelangt, taumelte er mehr, als dass er flog. Der Phönix hatte sich von ihm abgewandt, verstand aber seine letzten Worte noch.
»Wir werden uns wiedersehen, doch dann wirst du eine schwarze Kreatur sein und zu deinen Füßen wird deine eigene zerstörte Stadt liegen.«
Alles, was Finn darauf noch zu hören bekam, war: »Das werden wir sehen!«
Dann explodierte die Luft förmlich und der Feuervogel war verschwunden. Finn sah noch seinem flammenden Schweif nach. Was würde nun werden? Aus dem, was der Phönix von sich gab, konnte er keine Pläne schmieden.
»Seine verdammte Eitelkeit, über alles und jedem zu stehen«, murmelte er resigniert vor sich hin.
Aber was, wenn er, der große Finn, falsch lag und die Erde nur noch wegen der Zurückhaltung dieser machtvollen Wesen bestünde? Ihm war schon bewusst, setzten sämtliche Mächte dieser Welt ihre Kräfte gegen Bior ein, bestünde kein Zweifel an deren Erfolg, doch es würde den Erdball möglicherweise in sich selbst zerreißen. Soweit ließe er es jedoch auf keinen Fall kommen, es gab immer und für alles einen anderen Weg.

Erwartungsvolle Blicke waren auf ihn gerichtet, als die zurückgelassene Gruppe ihn am Himmel erblickte.
Was sollte er ihnen jetzt erzählen? Die Arroganz des Phönix‘ und ihre Auseinandersetzung einfach verschweigen? Es würde nichts an der Tatsache ändern, dass sie wieder einmal auf sich selbst gestellt waren. Es gab Tage, da war es sogar ihm zu viel und schon manches Mal dachte Finn darüber nach, seine Kräfte und sein Wissen an einen Jüngeren abzutreten. Doch wem könnte er diese schwere Aufgabe aufbürden?
Nein! Bior war und blieb einfach zu gefährlich! Auch wenn wir ihn im Moment noch in seiner Verbannung kontrollierten. Aber nichts ist für ewig, da machte er sich nichts vor. Diese Gedanken hingen ihm noch nach, als er zur Landung ansetzte. Jeder verstand sofort sein schweigsames Kopfschütteln.
»Warum wusste ich diese Antwort bereits?«, hörte er Ian enttäuscht sagen.
»So darfst du aber nicht denken. Für jedes Problem findet sich eine Lösung. Den Phönix um Hilfe zu bitten, war nur eine von vielen. Wenn ich auch zugeben muss, dass es die Einfachste gewesen wäre.«
»Von vielen?«, wiederholte Ian.
»Ja! Von vielen. Was würdest du sagen, wenn mir auf Anhieb sofort eine zweite Lösung einfallen würde?«
»Ich ahne, was jetzt kommt. Du redest sicher wieder von diesem Stab. Tychon, richtig?«
Der ungläubige Unterton in Ians Stimme war nicht zu überhören. Es reizte Finn unbändig, wenn jemand, noch dazu einer aus seinem eigenem Volk, meinte, sich über mächtige Wesen, wie den Phönix oder Tychon, eine Meinung bilden zu dürfen. Es gab gute Gründe, dass die Geschicke der Erde in ihren Händen lagen. Es fehlte den Jüngeren einfach an Vertrauen, sich den alten Geschichten zu stellen. Langsam betonend erhob er seine Stimme.
»Ja genau! Das Wesen Tychon. Es ist ebenso alt wie der Phönix, denn beide wurden einst in den gleichen Feuern geboren. Wenn die Zeit gekommen ist, wird auch er aus seinem tausendjährigen Schlaf erwachen.«
Doch Ian erkannte den Grat nicht, auf dem er bereits wandelte und so forderte er ihn ein weiteres Mal heraus.
»Kann es sein, dass du dabei eine Kleinigkeit übersiehst?«, fragte er. »Ich erinnere dich nur ungern daran, dass der Stab bis zum heutigen Tag niemanden als würdig erachtete.«
Das Auf- und Abtanzen der hervortretenden Adern in Finns Armen zeigte deutlich, wie sehr er seine Hände zu Fäusten ballte. So angespannt fehlte nur noch genau ein einziges abwertendes Wort Ians, doch jemand anderes kam Finn zuvor.
Floss gerade noch warmes, pulsierendes Blut durch Ians Adern, schien es in der nächsten Sekunde schon zu gefrieren. Was ist das? Er versuchte sich dagegen zu erwehren, jedoch sinnlos. Es verwandelte ihn bereits in eine Eissäule.
Finn blieb dessen Lage nicht verborgen, doch Ian erntete nur schallendes Gelächter seinerseits.
»Siehst du nun?«, sagte er mit ironischem Ton in der Stimme, »Schon fesseln dich die Dinge, die du gerade noch als Geschichten verspottet hast.«
»Finn! Ich kann darüber nicht lachen!«, kam unter großer Anstrengung aus seinem fast versteinertem Mund.
Doch Finn traf keinerlei Schuld an Ians misslicher Lage. Dies verdankte er einer schönen Frau, welche, wie aus dem Nichts heraus, hinter dessen Rücken auftauchte. Sie hatte die beiden für einen Moment in ihrer Unterhaltung belauscht und Finns aufschäumende Wut war ihr nicht verborgen geblieben. Anstelle seines Ausbruchs wollte sie Ian auf ihre Weise demonstrieren, dass sich in jeder Geschichte ein Fünkchen Wahrheit finden lässt. So bannte sie ihn, nur um ihm damit vor Augen zu führen, dass es hier draußen weit mehr als nur seine eigene Vorstellung gab.
»Celestra«, Finns Lippen formten leise ihren Namen. Die Augen waren gefüllt mit dem Glanz der Freude und er stob mit zwei, drei Flügelschlägen hinüber zu ihr.
»Deine Künste entzücken mich immer wieder«, flüsterte er und ihre Blicke berührten sich erneut.
Ihr verzaubertes, in sich umherwirbelndes Haar berührte streichelnd sein Gesicht, als sie sich zu ihm herüber beugte und auf den Hals küsste, genau an jene Stelle unter seinem linken Ohr, an welcher er seine Tätowierung trug. Ihre Finger umspielten diese Rune, die fast wie ein spiegelverkehrtes F wirkte. In ihren Augen erkannte man eine Tiefe, die sich im Umgang ihrer Worte widerspiegelte.
Finns Hände glitten an ihrem Rücken entlang zu den ihren herab und er flüsterte: »Nun sei so lieb und befreie den Armen wieder aus seinem eisigen Gefängnis.«
»Sei mir gegrüßt, Ian!«, sagte sie freundlich, nachdem beide um ihn herum gegangen waren. »Ich nehme an, dass du den Geschichten der Zeitwächterin genauso wenig Glauben schenkst?«, und sie ließ es sich nicht nehmen, ihn mit ihren Augen zu verführen.
Der noch immer in seiner Starre gefangene Ian brachte kaum ein klares Wort über die Lippen.
Deshalb sprach sie weiter: »Ihr Name ist Celestra, falls du es vergessen hast oder noch gar nicht wusstest. Und wenn du möchtest, darfst du mich ruhig bei diesem, meinem Vornamen, nennen.«
Ihre Finger fuhren sanft über seine Wange, sodass sein Gefängnis aus Eis wieder zu schmelzen begann. Doch Ian traute dem Frieden nicht, er verharrte weiter, als sei er noch immer gefangen. Einzig seine Augen folgten jedem ihrer Schritte und er dachte, was für eine Schönheit, behielt es aber besser für sich. Wer weiß, was sie sonst noch alles mit ihm anstellen würde!
»Aus welchem Grund sollte ich dir für ein Kompliment den Kopf abreißen?«
Verflucht, dachte er, nicht nur dass sie mich wie einen Spielball benutzt, sie liest auch noch meine Gedanken. Und wirklich, Ian sah seine Vermutung in dem Aufflackern ihrer Augen bestätigt. Tief durchatmen, sagte er sich, das nimmt kein gutes Ende. Schließlich ließen sich seine Gedanken bei ihrem Anblick kaum im Zaum halten. Schau weg, schau doch einfach weg, versuchte er ihnen zu befehlen, jedoch vergebens. Der Einzige, der sich darüber köstlich amüsierte, war Finn. Er kannte Celestras magischen Zauber, aus dem es für niemanden ein Entrinnen gab.
Doch, um dem endlich ein Ende zu bereiten, stellt er sich zwischen die beiden und sagte: »Du hast ihn nun lange genug betört«, und legte bei diesen Worten seinen Arm um ihre Schulter. »Jetzt komm, sei so lieb und verrate mir den Grund deines Erscheinens. Du würdest mich nicht Aufsuchen, wäre es nicht eilig!«
Sie packte seine Hände, die noch immer auf ihren Schultern ruhten, und sagte:

»Ich habe IHN gefunden!«

Ihre Worte trafen Finn wie ein Schlag. Sein Arm wich von ihr herab. Er sah sie zwar an, aber auch irgendwie durch sie hindurch, als stände er vor einem Geist und nicht vor ihr.
»Wie meinst du das, du hast ihn gefunden? Wo hast du ihn gefunden? Nein, ich will es nicht wissen. Es wäre viel zu früh für ihn. Wie alt mag er sein, 15 vielleicht 16 Jahre? Diesen Gefahren kann er in seinem Alter niemals gegenübertreten! Die halbe Welt würde ihn jagen, sobald er auch nur einen Fuß vor seine Tür setzte.«
»Ja das werden sie«, pflichtete sie ihm bei, »Doch auch die andere Hälfte der Welt wird nicht müde werden, ihm ein Schild gegen das Böse zu sein.«
Jetzt, wo sie ihn gefunden hatten, begann also das Rennen um die Prophezeiung, die wie das Schwert des Damokles über dem Auserwählten schwebte.
Sie brauchten sich die Erde doch heutzutage nur einmal anschauen, um zu verstehen, dass es keinen weiteren Versuch mehr geben würde. Alles war unumstößlich an sein Schicksal gebunden. Träfe er auch nur eine einzige unüberlegte Entscheidung, fiele sie in die Hände seines Widersachers Bior.
Wenn wir ihm wenigstens sagen dürften, was er falsch oder richtig machte, aber nein, seinen Weg, seine Geschichte, musste er frei von fremden Entscheidungen finden. Niemand! Nicht einmal wir, die ihn nur beschützen wollten, durften sich ihm zu erkennen geben und schon gar nicht in den Weg stellen, dachte Finn, bevor er sich weg von ihr, hin zu seinen Gefährten drehte.
»Ihr werdet allein zurückkehren. Ich habe mit Celestra noch einiges unter vier Augen zu besprechen. Ich wünsche aber, dass unsere gefallenen Worte diesen Kreis niemals verlassen!« Am Ende seiner Worte angelangt, war er im Begriff, sich von der Gruppe abzuwenden, da trat Ian mutig einen Schritt auf ihn zu.
»Findest du nicht, dass wir auch mehr über ihn erfahren sollten?«, fragte er zu Finns Überraschung.
Auch wenn Ian in der Höhle des Phönix‘ unachtsam gewesen und mit seinen Worten hier und da übers Ziel hinaus geschossen war, sprach seine besondere Betrachtungsweise der Dinge ansonsten für ihn. Vielleicht würde er eines Tages ...
»Nein, Ian«, bekam er zur Antwort, Finn schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich es wollte, es wäre für uns alle viel zu gefährlich.«
Ian sah von Finns Augen herab zum Boden, dann noch einmal hinüber zu jener Höhle, beließ es aber dabei.

Nun endlich allein betrachtete Celestra den großen Anführer der Nims mit fragendem Blicken.
»Es freut mich zu sehen, dass du nach so vielen Jahrtausenden deine Wahl getroffen hast«, und ergriff seine Hand. »Du hast sie doch getroffen, oder?«
»Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort darauf«, sprach er gedankenversunken. Woraufhin sie ihm erneut zärtlich über die Wange strich.
»Dann gib ihm eine Chance sich zu beweisen! Was ist, wenn einem von uns beiden etwas zustößt? Wir hatten bisher verdammtes Glück bei unserer Suche, dass Biors Schattenkrieger ihn nicht in dem verriegelten Teil Andralons vermuteten. Und gerade dort bräuchte ich jetzt jemanden wie diesen Ian.« Finn sah sie an.
»Woher nimmst du die Überzeugung, dass er der Richtige ist?«
Und da war es wieder, dieses selbstsichere Lächeln, welches einst Schuld daran war, dass er sich verliebte.
»Und wie stellst du dir das vor? In dem vom Senat kontrollierten Teil der Stadt spaziert man nicht einfach so hinein, ohne dessen Aufmerksamkeit zu wecken! Außerdem bringt jeder Eingriff unsererseits die Erde ein weiteres Stück näher an den Rand des Abgrundes.«
»Ich weiß, ich weiß. Aus diesem Grund müsste ich ja auch Ian bis hin zum Beginn der Stromausfälle Andralons schicken. So kann er sich in die Reihen des Senats eingliedern, genau zu dem Zeitpunkt, als er sich gründete.«
Finn schüttelte mit dem Kopf.
»Nein, Celestra! Du vergisst, dass Biors Krieger ganz sicher ihre Finger im Spiel hatten, als die Stadt langsam in der Finsternis versank. Niemand von uns weiß, ob sie sich nicht sogar noch dort aufhalten. Sie würden einen Vertreter meines Volkes unter Umständen aufspüren. Was seinem Ende gleichkäme.«
Er wollte gerade weiter ausholen, da unterbrach sie ihn.
»Ich werde auch in Andralon sein!«
Einen Moment lang herrschte Stille zwischen den beiden. Finn musterte sie oder viel mehr ihre Aussage, sich aus unersichtlichen Gründen dieser Gefahr aussetzen zu wollen.
Bis zu diesem Punkt der Unterhaltung drehten sich seine Gedanken ausschließlich um Ian, den Senat und dem Gesuchten. Doch nun war dort noch mehr. Seine Hände berührten die ihren erneut. Und er suchte in der aufkommenden Unruhe ihre eisblauen Augen. Viel, viel zu spät erkannte sie, dass er bereits tief darin nach ihrem Geheimnis forschte. Den Blick von ihm losreißend versuchte sie noch auszuweichen. Doch er packte sie.
»Was versuchst du, vor mir zu verbergen?«
Wortlos fing ihr ganzer Körper an zu beben. Mit einem Ruck riss sie sich von ihm los und Finn ließ sie gewähren. Leise, mit einer Verzweiflung, die ihm durch Mark und Bein fuhr, begannen ihre Worte: »Was hilft mir all der Zauber, wenn ich nicht das beschützen darf, was mir das Liebste auf dieser Welt sein wird?«
»Wovon sprichst du? Ich kann dir nicht folgen.«
Doch ohne ihm zu antworten, stürzte sie sich schluchzend an seine Schulter.
»Ach Finn, manchmal wünschte ich mir, nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein.«
Das willst du doch gar nicht mein Kind, dachte sich Finn.
»Warum erzählt du mir nicht, was dich bedrückt? Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam eine Lösung finden werden und während er das sagte, zerzausten seine Finger ihr wunderschönes langes Haar.
Die Geborgenheit in seinen Armen ließ sie wieder zu sich zurückfinden.
»Finn!«, sagte sie und schaute ihm dabei verzweifelt in die Augen, »ich werde mich in einen Menschen verlieben!«
Er hatte ja mit allem gerechnet, nur nicht damit. Für wenige Sekunden kehrte die Stille zwischen den beiden zurück. Um sie herum war alles ausgeblendet, vergessen. Tief einatmend durchbrach sie dann das gespenstig anmutende Schweigen.
»Weder du noch ich werden ihn retten können. Ich habe gesehen, wie sich seine Augen für immer in meinen Armen schließen werden.«
Er verstand sie immer weniger und fragte: »Warum verhinderst du es dann nicht? Du bist die Zeitwächterin, wer könnte dir verbieten, deine Kräfte auch für deine Liebe einzusetzen?«
An ihrem silbernen Gewand herumspielend, sah sie zu Boden.
»Glaube mir, ich würde es tun. Doch ich müsste IHN töten!«
Langsam begriff Finn, was sie ihm die ganze Zeit zu sagen versuchte. Sie musste also wählen, zwischen ihrer Liebe oder dem Ende der Welt.
»Dann darfst du es nicht zulassen! Geh ihm aus dem Weg. Meide ihn!«
»Wenn das so einfach wär‹«, fing sie erneut an zu schluchzen. »Ich glaube aber kaum, dass ich gerade dir das erzählen muss!«
Es war keine Absicht, doch ihre Worte rissen alte Wunden in ihm wieder auf.
Mit einem Kloß im Hals antwortete er: »Ja ich weiß«, und sah von ihr ab. »So trage die Zeit auf Händen, die euch gegeben ist. Verschenke keine Sekunde ihm zu zeigen, dass dein Herz bis zu seinem letzten Schlag allein nur ihm gehört. Vielleicht füllt es ja die Trauer, die du bis ans Ende allen Lebens mit dir tragen wirst.«
Seine Worte gingen ihr eiskalt unter die Haut. Zum ersten Mal ließ er sie ein Stück weit in sich hinein schauen. So sah es also hinter der Fassade des großen Anführers der Nims aus.
»Warum hast du nie ein Wort gesagt? Ich hätte dir doch zugehört, wäre für dich da gewesen!«
»Und? Was sollte ich dir erzählen?«, sah er sie schwermütig an. »Dir für alles die Schuld geben? Nein Celestra, selbst uns werden Grenzen aufgezeigt, die wir zu akzeptieren haben. Ich hatte eine traumhafte Zeit mit deiner Mutter, doch sie hat sich am Ende für dich entschieden. Auf dieser Welt ist nun mal kein Platz für eine zweite Zeitwächterin und so musste sie unsere Welt verlassen.«
Kein weiteres Wort kam mehr über seine Lippen. Unsere Tochter kommt ganz nach dir Hanna, sie trägt dein Herz unter ihrer Brust, waren seine Gedanken. Hoffen wir, dass ihrem Glück mehr Zeit geschenkt wird als unserem. Sie umarmten sich und hielten noch einen Moment darin inne. Dann schenkte sie ihm einen Letzten sanfter Kuss, eine flüchtige Berührung und verschwand, wie sie gekommen war.