Kapitel 3

3. Die Verbotene Stadt


Zur selben Zeit betrat jemand, nicht weit entfernt, die Verbotene Stadt Andralon und lief unbeirrten Schrittes seinem Ziel entgegen.
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> Einst trug diese Stadt ihren Namen voller Stolz. Ihre Geschichte begann, als die Welt, wie sie die Menschheit bisher kannte, von einem Tag auf den anderen aufhörte zu existieren. Das Zentrum ihrer Welt sollte von nun an irgendwo zwischen den Phlegräischen Feldern, deren Ausläufer bis hin zu der einstigen italienischen Großstadt Neapel führten und dem erloschenen Vulkan Vesuv, liegen. Diese teilten sich zu ihren aktiven Zeiten gemeinsame Magmakammern, welche nach dem Rückzug des flüssigen Gesteins ins Erdinnere wie ein Schweizer Käse völlig ausgehöhlt waren. Aber auf der anderen Seite lagen sie, randvoll mit den kostbarsten Schätzen gefüllt, für den Menschen da. Entdeckt wurde das unterirdische System rein zufällig, als ein italienischer Touristenführer eine Gruppe Urlauber auf einen der gefährlichsten Feuerberge der Welt, den Vesuv, führte. Dessen gigantischer Ausbruch löschte schon im Jahr 79 n. Chr. die Städte Pompeji, Herculaneum und Stabiae binnen weniger Stunden für immer aus.
Eine knappe Stunde Fußmarsch lag bereits hinter der Gruppe, als sie den dreihundert Meter in die Tiefe ragenden Krater erreichten. Es sollte, so wie es für die Führung üblich war, auf den 500 Metern des Kraterrandes entlanggehen, als sich einer der Gäste näher an den Abgrund heranwagte, als es für ihn gut war. Der Vulkanführer, der nebenbei auch ein geübter Bergsteiger war, seilte sich sofort in das Innere des Kraters, zu dem fünfzehn Meter in die Tiefe gestürzten Pechvogel hinab. Doch bis auf einige unspektakuläre Abschürfungen hatte sich der Unglücksrabe nichts getan. Wobei sein Glück nichts im Vergleich zu dem des Touristenführers war. Nachdem er die Gruppe wieder sicher an den Fuß des Vesuvs zurückgebracht hatte, erklomm er den Vulkan erneut, um sich an genau derselben Stelle noch einmal in den Abgrund abzuseilen. Keine fünf Meter von dem Fleck entfernt, wo er den Verletzten zuvor rettete, zeigte sich eine schmale Felsnische, die er ohne dessen Sturz vom Kraterrand aus nie im Leben entdeckt hätte. Sie war gerade mal so breit, dass er sich zwar stehend, aber mit eingezogenem Bauch seitlich hineinschlängeln musste.
Zwei, drei Meter etwa dauerte dieses Schlängeln, dann öffnete sich der Spalt erst zu einem Gang, um danach in einer unfassbar großen Höhle zu enden. Was war hier nur passiert?, arbeitete es in seinem Kopf, wohin war das ganze flüssige Gestein verschwunden? Es qualmte und roch zwar an der Oberfläche des Vulkans, so wie immer, aus allerlei Öffnungen nach verfaulten Eiern, was durch das austretende Schwefelgas verursacht wurde, doch hier im Inneren war von dem Magma und den schädlichen Gasen kaum noch etwas zu bemerken.
In den durch die enorme Hitze versiegelten Wänden, Decken und Böden blitzten und blinkten die kostbarsten Schätze, welche ihre Erde sonst keineswegs freiwillig preisgab. Mit bloßen Händen brach er Diamanten, Smaragde, Gold und Silber heraus, all das, was ein Mensch sich in seinen kühnsten Träumen niemals auszumalen wagte. Die Taschen randvoll gefüllt, trat er schon nach wenigen Stunden seinen Heimweg an.
In den nächsten Wochen bestand seine Arbeit nicht mehr darin, Touristen auf den Vulkan zu führen, sondern viel mehr, jeder Menschenseele dort aus dem Weg zu gehen, um seine unglaubliche Entdeckung nicht öffentlich preiszugeben. Als leidenschaftlicher Bergsteiger und Hobby-Archäologe fiel es ihm nicht schwer, immer tiefer in den Berg vorzudringen. Doch selbst er stieß irgendwann hier unten allein an seine Grenzen. Wenn er sich in den abertausenden von Gängen nicht verlaufen wollte, musste er sich über kurz oder lang ein Team suchen, welches ihn unterstützen sollte. Bloß wie stellte er das an? Wenn die italienische Regierung von seinem Fund Wind bekäme, würde sie nicht zögern, ihm seine bis heute angehäuften Reichtümer wieder abzunehmen. Wobei es ihm dann doch nicht sonderlich schwer fiel, da man für Gold und Diamanten auf dieser Welt fast alles zu kaufen bekam. Was ihn am Ende doch verwunderte, dass es gerade mal ein einziger Landsmann, namens Giovanni Amanti, in sein aus fünfzehn Personen bestehendes Team geschafft hatte. Sie waren ein zusammengewürfelter Haufen aus Geologen, Archäologen und einigen, die nur das schnelle Geld in diesem Abenteuer suchten.
Woche um Woche drangen sie immer tiefer ins Erdinnere vor, wobei sie den Kern des Vesuvs bereits längst verlassen hatten, als sie auf eine Art Verbindungsgang stießen. Dieser führte sie auf direktem Weg unter den Golf von Neapel mitten in das noch tausendmal größere und verzweigtere Geäst der Phlegräischen Felder. Jedoch ihren größten Fund sollten sie nicht bergen können, ja nicht einmal betreten, da seine Wände senkrecht steil in eine ihnen nicht ersichtliche Tiefe stürzten und weder Licht noch Seil den Boden erahnen ließen. Sie vermuteten, dass es sich hierbei um eine unvorstellbare Magmakammer handeln musste, welche den Vesuv und die 150 Quadratkilometer großen Phlegräischen Feldern gemeinsam versorgt haben dürfte. Sie musste sicher randvoll mit dem flüssigen Gestein vieler Jahrhunderte, wenn nicht schon Jahrtausende, gestanden haben. Ihre Wände waren durch die Hitze und den Druck so stark verdichtet, dass es ihnen nicht gelang, auch nur einen einzigen Haken zum Abseilen in sie hineinzuschlagen.
Es sollten mehrere Jahre ins Land gehen, bis der einstige Touristenführer und heutige Chef des bereits so lange geheimgehaltenen Unternehmens eine neue Idee hatte, um die bis dahin unberührte Magmakammer doch noch betreten zu können. Er trommelte sein Team zusammen und eröffnete ihnen, dass er mittels eines U-Bootes versuchen würde, in den Tiefen des Mittelmeers nach einem Zugang zu der geheimen Kammer zu suchen. Lange bitten musste er niemanden, da jeder von ihnen seinen Fuß als erstes dort hineinsetzen wollte, woran sie schon seit Jahren gescheitert waren. Das bedeutete aber auch, dass sie ihr Team erneut um eine U-Bootcrew erweitern mussten, was die Gefahr des Entdecktwerdens wieder einmal auf die Probe stellte. Darum wunderte es auch am Ende keinen, dass sie erst in den Vereinigten Staaten fündig wurden und sich ihre U-Boot-Besatzung zum überwiegenden Teil aus Amerikanern zusammensetzte. Wieder sollten einige Monate ins Land gehen, bis jene Crew nach Auswertung von Satellitenbildern der Phlegräischen Felder und unzähligen erfolglosen Tauchgängen endlich den entscheidenden Durchbruch vermeldete. Sie hatten eine Höhle gefunden, die sich mit dem U-Boot befahren ließ und laut ihren Satellitenbildern einen Gang in ihre lang ersehnte Kammer vermuten ließ.
Ganze sechs Stunden vergingen nach ihrer Entdeckung, bis sie aus knapp 3000 Meter Tiefe wieder aufgestiegen waren, um den Rest der an Land gebliebenen Mannschaft einzusammeln. Schließlich brannte ein jeder von ihnen darauf, diese eine Kammer endlich zu knacken, wobei der Gedanke einen Supervulkan mit dem Explosivitätsindex der höchsten Stufe 8 zu öffnen oder gar zu betreten, einem schon eine höllische Angst einjagen konnte. Doch hatten sie nicht all die Mühe auf sich genommen und das ganze Gold investiert, um jetzt zu kapitulieren. Sie wollten schließlich einen Fuß auf den Boden jener Kammer setzen und ihre Belohnung, einen riesigen Piratenschatz, bildlich gesprochen, darin finden und heben. Wieder in 3232 Meter Tiefe, am Rande des Durchgangs angelangt, manövrierte der Kapitän das Gefährt im Schleichmodus durch die kurvige und enge Eingangspassage hinein in eine Höhle, die uns den Glauben an alles Irdische nehmen sollte.
Sofort veranlasste er alle Scheinwerfer an Bord für einen Moment zu löschen, worauf sie sogleich in ihr eigenes märchenhaftes Licht eintauchten, welches von der Decke herabstrahlte und sich an der Wasseroberfläche tausende Male widerspiegelte. Der Zauber wich erst, als das Schiff wieder Fahrt aufnahm und es die Wasseroberfläche durchbrach. Auf der gegenüberliegenden Seite des Höhleneingangs erkannten sie zwei Öffnungen. Eine war groß und oval geformt, die andere eher klein. Diese reichte dafür aber bis hinunter an den steinigen Fuß des Felsbodens. Die Höhle war, so schätzten sie, zur einen Hälfte mit Meerwasser gefüllt und zur anderen mit einer darin gefangenen Luftblase, welche sich mit den Messinstrumenten des U-Boots schnell als stickige, aber atembare Luft herausstellte, was wahrscheinlich mit dem eingeschlossenen Sauerstoff des Meeres zu erklären war. Dem einstigen Touristenführer gebührte die Ehre, als erster das Schiff zu verlassen und seinen Fuß als erster auf den festen Boden in mehr als 3000 Meter Tiefe zu setzen. Gerade mal der Kapitän und sein 1. Offizier blieben zurück auf dem U-Boot, der Rest von ihnen ließ sich die Entdeckung des Jahrtausends um nichts in der Welt nehmen. Der Gang erwies sich als tief, wirklich sehr tief in den Fels hineingearbeitet, und endete in einem kleineren verworrenen Labyrinth aus Höhlen und Gängen, die aber vorerst den erhofften Weg in die Kammer nicht so einfach preisgaben.
Es sollten noch ganze zwei Wochen vergehen, bis Giovanni Amanti sich ausgerechnet an die eine der hundert Wände lehnte, was ein hohles Geräusch dabei hinterließ, als er seinen Ellenbogen dagegen stützte. Mit seiner Spitzhacke, mit der er eben noch Gold und Diamanten aus den Wänden sammelte, pickte er ein faustgroßes Loch in sie hinein. Es konnte nur ihre gesuchte Kammer sein, da das Licht seiner Lampe in einer Tiefe von 300 Metern noch immer kein Ende fand. Mit vereinten Kräften erweiterten sie das Loch, bis es dem Ersten gelang, auf die andere Seite zu klettern. Und diese Ehre gebührte in dem Fall seinem Entdecker Giovanni. Es sollte tatsächlich ihre lang gesuchte Kammer sein, was sich schon allein an ihrer Größe erkennen ließ. Nicht einmal ihre besten Scheinwerfer, welche eine Reichweite von mindestens zweitausend Metern hatten, konnten weder ihr oberes noch ihr unteres Ende ausleuchten. An diesem Ort ließe sich gut und gerne eine Großstadt wie Neapel samt ihren Einwohnern unterbringen, dachte sich Giovanni. Ihr Interesse lag jedoch einzig in der Ausbeutung des »Piratenschatzes«. Tage, Wochen, Monate trug das U-Boot Schätze ans Tageslicht, die die Welt noch nie zuvor gesehen hatte. Es gab dort unten Diamanten, die größer als eine ausgebreitete Männerhand waren, von Gold, Silber und anderen wertvollen Edelsteinen mal ganz abgesehen. Doch faszinierend waren auch die Konstrukte, welche das zurückgegangene Magma hinterließ, ob in Wänden, Decken oder Böden. Von orange-gelben Tropfenformen, die viele Meter weit von den Seitenwänden herabhingen und zum Teil wasserfallähnliche Kaskaden bildeten oder tiefroten durchsichtigen Gebilden an den Wänden, übergehend in den Boden unter ihren Füßen, in denen farbenreiche Adern das Licht ihrer Lampen widerspiegelten. Es gab bei fast jedem Schritt etwas Neues und noch Unglaublicheres zu entdecken. Ihr größtes Problem bestand nicht in dem Finden der Schätze, sondern sie weiterhin, wie all die anderen Jahre, unbemerkt fortschaffen zu können. Irgendwann würde man ihr U-Boot entdecken und ihm sehr wahrscheinlich hierher folgen, sie enteignen und vermutlich sogar bis ans Lebensende in Ketten legen. Also trafen sie mit jeder Fahrt des Bootes Vorkehrungen, indem sie Tonnen von Stahl herunterschafften, um den Eingang ihrer Piratenschatzkammer mit vier eisernen Türen zu versehen. In das ovale Loch neben der ersten Eisentür setzten sie zusätzlich noch ein bruchfestes Sicherheitsglas ein, das eigentlich für das U-Boot vorgesehen war und in dessen Laderaum nur unnützen Platz wegnahm.
Eines Tages, als sie gerade erneut dabei waren die Ausbeute ihrer letzten Wochen durch den 1,5 Kilometer langen und mit Eisentüren bestückten Gang zu schaffen, blieben ihre Blicke an dem ovalen Fenster vor der letzten, noch verschlossenen Tür hängen. Fast die gesamte Bootsmannschaft lag auf den fünfzig Fuß vom Schiff bis zu ihrer Tür tot und verstümmelt auf dem steinigen Boden. Es fiel ihnen sofort auf, dass nicht ein Tropfen Blut vergossen wurde, obwohl ganze Gliedmaßen von ihren Körpern abgetrennt, umherlagen. Es war ein Anblick des Grauens und keiner von ihnen, verspürte das Verlangen dort hinauszugehen, um an Bord nach Überlebenden zu suchen. Was sollten sie jetzt tun? Auch wenn sie mehr als reichlich mit Verpflegung für die nächsten Wochen eingedeckt waren, der Gedanke hier unten für alle Zeit gefangen zu sein, beängstigte jeden von ihnen. Selbst wenn sie es wagen würden, dort noch einmal rauszugehen, was brächte es ihnen? Ohne den Kapitän oder seinen 1. Offizier würden sie das U-Boot schon nach zehn Metern mit Sicherheit gegen die Felswände steuern. Nein, dieser Weg blieb ihnen für immer verschlossen und damit jenes dort draußen nicht auch noch andere in seine Fänge bekam, hinterließen sie eine Warnung an diesem Ort.
Von nun an waren die kostbarsten Materialien unter ihren Füßen und Händen, egal wie oft sie sie auch ansahen, nur noch schnöder Mammon. Jeder von ihnen würde sie sofort für einen Weg hinaus an die Erdoberfläche ohne zu zögern eintauschen. Doch es sollte noch fast ein ganzes Jahr ins Land gehen, bis einer der fünf eingeschlossenen auf dieselbe Weise, wie sie in die Magmakammer hineingekommen waren, nun auch einen Weg heraus fand.
Ihre Batteriereserven gingen langsam zur Neige, sodass sie nicht mehr, wie noch am Anfang, jeder getrennt nach einem Ausgang suchten, sondern gemeinsam mit nur einer Taschenlampe im Gänsemarsch immer höher in der Höhle hinaufstiegen. Giovanni, der vorneweg bewaffnet mit ihrer letzten verbliebenen Lampe lief, fand gerade noch rechtzeitig eine bernsteinfarbene glasige Wand, in der ihm sofort etwas Sonderbares ins Auge fiel.
Nachdem sie sich durch die fast ein Meter dicke Wand gehackt hatten, standen sie in einem Gang, in dem Teile einer Bergsteigerausrüstung lagen, welche sie freudestrahlend als die ihre wiedererkannten. Es lag zwar schon einige Jahre zurück, doch genau an diesem Ort standen sie bereits einmal, ohne jedoch zu ahnen, wie nah sie ihrem gesuchten Eingang zur Magmakammer waren.
Auch wenn die fünf Überlebenden diesen Ort nie wieder betreten wollten, ließ ihnen das Schicksal einige Jahre später keine andere Wahl, als sie erneut aufzusuchen. Sie brachen ihren Schwur, niemals einem Menschen von diesen Höhlen zu erzählen und retteten so fast einer Millionen Einwohner Neapels das Leben. Die fünf wussten, was hier unten auf sie wartete, und trafen Vorkehrungen, die sich für viele kommende Generationen als sehr nützlich erweisen sollten. Sie versorgten die Höhlen mit Wasser, Sauerstoff und Energie durch riesige Leitungen, welche in Windeseile tief in den Berg hineingegraben wurden, bevor sie den Eingang im Vesuv hinter sich für immer verschlossen.
Sie tauften ihre neue Welt auf den Namen Andralon. Dieser Begriff stammte aus einer mittelalterlichen Überlieferung und bedeutete so etwas wie »die letzte Zuflucht«. Was dieser Ort ja auch für den vermutlich letzten Rest der Menschheit nun auch war.
In dem ersten Jahrzehnt gelang es ihnen, den Phlegräischen Feldern so viel Material abzugewinnen, dass ihre Stadt mit rasanter Geschwindigkeit wuchs. Sie bauten aus dem in großen Massen darin vorkommenden Lavagestein, sogar kleine zweistöckige Häuser in die riesige alte Magmakammer, ähnlich derer an der Erdoberfläche. Andere wiederum bohrten sich in die prächtig schimmernden Felswände hinein, dort, wo das Gestein nicht ganz so hart war und formten sie zu einem löchrigen »Schweizer Käse« um. Dies alles geschah in einem friedlichen Miteinander in den ersten fünfzig Jahren, bis die ersten Stromausfälle anfingen, ihre scheinbar heile Welt für immer zu verändern.
Die Unmengen an Strom, die Andralon mittlerweile verschlang, kamen noch immer aus den alten Leitungen, die einst von der Oberfläche hinuntergezogen wurden. Wind- und Sonnenenergie sicherten über viele Jahre die Grundlage ihres Lebens, doch ohne jegliche Wartung dieser Anlagen auf der Erdoberfläche schalteten sie sich Stück für Stück, eine nach der anderen, ab.
Andralon besaß heutzutage mehr als 20 Stadtteile über weit verzweigte Höhlenlabyrinthe verteilt, in denen sich die unterschiedlichsten Nationalitäten niedergelassen hatten. Keiner von ihnen ahnte wirklich, was auf sie zukommen würde, bis die ersten Höhlen in der ewigen Dunkelheit verschwanden und mit ihnen auch ihre gesamten Bewohner. Bald schon war die Rede von schattenartigen Wesen, die in den Gassen dort umherirren würden. Allerdings wurde auch niemals ein derartiger Beweis erbracht.
So vergingen weitere Jahrzehnte, in denen immer merkwürdigere Dinge passierten, bis sich endlich ein Senat gründete, um die Zügel Andralons in die Hand zu nehmen. Doch es war bereits viel zu spät. Die einst so stolze Stadt war gerade noch halb so groß und sie zu regieren oder gar zu kontrollieren für ihn unmöglich geworden.
Eines Tages waren seine Mitglieder gezwungen, eine Handvoll vielversprechender Forscher um sich zu scharren und ein Höhlensystem, welches viele Jahrzehnte gemieden wurde, wieder zu besiedeln. Sie überließen schweren Herzens die versinkende Stadt und deren Bewohner den Mächten des Bösen und verriegelten von da an ihre neue Heimat. <
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Am Ende seines Weges klopfte er zaghaft an die schwere Holztür eines kleinen felsigen Häuschens. Daraufhin erhellten sich über ihm die feinen Rillen der bräunlichen Fensterflügel. Knarrend öffneten sie sich und heraus schaute eine gebrechliche alte Frau.
»Coren mein Schatz«, rief sie freudig erregt.
Mit einer Leichtfüßigkeit, die man ihrem Aussehen nach nicht vermuten würde, eilte sie hörbar die abgerundeten, felsigen Stufen ihres Hauses herab. Schnell hatte sie die Tür aufgesperrt und überschüttete den jungen Mann mit Küssen auf Stirn und Wange.
»Komm herein mein Kind, die Straßen haben Augen und Ohren bekommen«, sagte sie und zog ihn zu sich hinein. »Lass dich anschauen. Groß bist du geworden.«
»Ach Großmutter,«, erwiderte Coren, »du tust immer so, als wäre es Jahre her.«
Sie winkte ab.
»Viel zu selten hab ich dich bei mir«, sie drückte ihn noch einmal fest an sich. »Komm ich decke uns schnell den Tisch. Du wirst sicher hungrig sein. Sei aber bitte leise, weil dein Großvater noch immer schläft. Er war bis spät in der Nacht unterwegs gewesen.«
Coren wollte sie gerade fragen, warum der Großvater noch immer das Risiko auf sich nahm, nachts in den gefährlichen Gassen Andralons umherzulaufen. Da hörte er, wie sich im Stockwerk über ihnen eine Tür öffnete.
»Jetzt haben wir ihn doch geweckt«, sagte er und wollte sich bereits herumdrehen, um ihm entgegen zu eilen.
»Nein, das wird unser Gast sein. Sie steht jeden Morgen so früh auf.«
Coren sah sie an.
»Euer Gast?«, fragte er seine Großmutter verwundert.
Anstatt einer Antwort sah er nur in das vor-sich-hin-träumende Gesicht seiner Großmutter.
Leise kam über ihre Lippen: »Ich wünschte, sie müsste nicht so schnell wieder gehen. Ich kann es nicht beschreiben, aber sie hat etwas an sich, was mir in dieser kurzen Zeit schon so sehr ans Herz gewachsen ist.«
»Euer Gast?«, wiederholte er es dieses Mal noch lauter und war ihr dabei eine Spur zu neugierig.
»Lass sie bloß in Ruhe!«, fuhr sie ihn an, während ihre Augen bei diesen Worten richtig aufblitzten. »Die Kleine hat genügend eigene Sorgen um die Ohren.« Dann winkte sie ab, um fortzufahren: »Nun lass uns schon den Frühstückstisch decken. Sie wird sicher auch gleich herunterkommen.«
Corens Neugier war geweckt, wenn es meine Großmutter schon so spannend machte, musste diese Person ja etwas ganz Besonderes an sich haben.
Schnell war der Tisch von beiden gedeckt, doch wer leider noch immer nicht erschien, war dieser besagte Gast.
Die Tür zur Diele war nur einen kleinen Spalt breit offen. Coren versuchte das eine oder andere Mal hindurch zuschauen, doch wirklich erkennen ließ sich dahinter nichts.
Beide hatten nun an der nussbraun gepinselten Platte, welche als Küchentisch diente, Platz genommen.
»Nun sag schon«, fragte sie ungeduldig, »was erzählt sich der Senat Neues über Andralon? Du hast dir sicher den langen Weg nicht nur gemacht, um uns alte Leute wiederzusehen.«
Coren nahm ihre Hand, »Ach Großmutter, natürlich komme ich wegen der Sorge um euch hierher. In Medina erfährt man leider kaum ein Sterbenswörtchen über Andralons Zustände. Der Senat hält jede noch so winzige Information zum Thema der verbotenen Stadt zurück. Aber allen ist bewusst, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sie die großen Ventilatoren abschalten müssen, die eure Stadt mit Frischluft versorgen. Aber soweit werden es Nytrax und ich nicht kommen lassen. Wir stehen mit unserer Erfindung kurz vor dem Durchbruch. Alles hängt im Prinzip nur noch von ganz oben ab, ob wir die Erlaubnis erhalten, die alten Schleusen zu öffnen. Ich habe mich schon oft gefragt, ob der Senat überhaupt noch weiß, was er tut! Schließlich wäre unsere Schöpfung noch lange nicht so ausgereift, wenn wir nicht die vielen Bücher mit Erfindungen von Großvater hier aus Andralon hätten. Das zeigt doch sehr deutlich, dass die Entscheidung des Senats, Andralon den Rücken zukehren, völlig falsch gewesen ist! Ich bin mir sicher, dass wir die Stadt noch retten könnten.«
Doch die Großmutter war ihm kaum noch gefolgt, ihr Gesicht lag in tiefen Sorgenfalten. Ja schlimm steht es um Andralon, murmelte sie gedanklich vor sich hin. Schon knapp zwanzig Stadtteile sind bereits in die ewige Finsternis eingetaucht. Diese einst so mächtige Stadt wird untergehen. Es ist nicht die Frage ob, sondern nur noch wann es geschieht. Schon jetzt hört man beinah täglich Schreie aus den dunklen und verwaisten Teilen der Stadt. Gott möge ihren Seelen gnädig sein.
Coren wusste, dass es schlimm um Andralon stand, aber so schlimm! Am liebsten würde er seine Großeltern auf der Stelle mit hinüber nach Medina nehmen, doch der Senat würde dem niemals zustimmen. Allein schon, dass er ihre Grenzen übertrat, könnte große Probleme mit sich bringen. Aus diesem Grund besuchte er sie auch so selten. Nicht einmal mir, seinem besten Freund, konnte er sich anvertrauen. Es würde unser gesamtes Projekt gefährden. Immer wieder musste sich Coren erneut Geschichten ausdenken, wenn er mich mit einem neuen Buch überraschte, welches der Großvater immer aus dem kleinen Buchladen jenseits Medinas Grenze erwarb.
Über all den Sorgen, die in seinem Kopf umherspukten, hätte er beinah seine Neugier vergessen, aber zaghafte Geräusche aus der Diele riefen sie zurück. Er versuchte, wieder einen Blick durch den Spalt hindurch zu erhaschen, doch die Großmutter kam ihm zuvor. Sie öffnete die Tür und versperrte ihm dabei vollends die Sicht. Da passierte es, dass er sich hastig zu weit über den Küchentisch lehnte und die noch fast vollen Teetassen umriss. Duftend lief der heiße Tee über die nussbraune Platte, bevor er sich über den Fußboden ergoss.
»Junge was machst du nur?«, hörte er die Großmutter, die daraufhin sofort zurück in die Küche hastete.
Seine ganze linke Hosenseite sah aus, als hätte er sich … Wenn SIE jetzt hereinkäme, wie stände ich dann da? Doch zu seiner Verwunderung öffnete und schloss sich eine ganz andere Tür. Hatte sie etwa gerade das Haus verlassen und ich meine Chance verpasst, auch nur einen einzigen Blick auf diesen mysteriösen Gast zu werfen? Da fiel ihm in letzter Sekunde noch das Küchenfenster ein, was zwar nicht zur Haustürseite zeigte, aber es ermöglichte ihm wenigstens einen kurzen Blick. Wie konnte es anders sein, auch hier stand ihm die Großmutter wieder einmal im Weg, da sie gerade unter dem Fenster in einem Schränkchen nach einem Tuch kramte. Schon hörte er das Klacken von Frauenschuhen in der Gasse und für einen Moment erhaschte sein Blick noch schemenhaft eine weibliche Gestalt, die hastig vorbeihuschte. Sie trug einen übergeworfenen Mantel mit einer Kapuze, in welche sie ihren Kopf einhüllte. Gerade einmal ihre frauliche Silhouette ließ sich darunter ausmachen, der Rest blieb im Verborgenen. So viel Pech konnte wirklich nur er haben.
Hätte sie mir nicht wenigstens einen guten Morgen wünschen können? Der Gedanke war natürlich Unsinn, woher sollte sie wissen, dass ausgerechnet an diesem Morgen noch jemand in der Küche auf sie wartete.
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Doch Celestra hatte das Haus nicht ohne Grund fluchtartig verlassen. Denn im Gegensatz zu Coren wusste sie ja genau, wer hinter der Tür den Tee verschüttet hatte. Sie war zuvor eine geschlagene Stunde in ihrem Zimmer auf und ab gewandert, ohne sich dabei entscheiden zu können, was sie tun sollte.
Bis zu dem Moment, als Coren das Haus seiner Großeltern betrat, war alles so geschehen, wie sie es vorhergesehen hatte. Aber von der einen auf die andere Sekunde sollte sich für sie alles verändern. Mit seiner Nähe verschwand der Blick in seine und ihre Zukunft.
Auf sich selbst einredend sagte sie: »Bleib ruhig, verlier‹ bloß nicht die Kontrolle.«
Mit dem festen Entschluss, sich zwar zu ihnen an den gedeckten Küchentisch zu setzen, Corens Augen jedoch fürs Erste zu meiden, verließ sie ihr Zimmer. Sehr weit sollte sie aber nicht kommen, zögernd hielt sie schon auf der Hälfte der Treppe inne. Zu spät, denn ihre Schritte wurden bereits in der Küche vernommen. Das Licht, welches sich nun durch die zum Spalt geöffnete Tür in die Diele hineindrängelte, mehrte sich und neugierig schaute bereits ihre Gastgeberin daraus hervor, um Celestra zu fragen, ob denn alles in Ordnung sei.
Leise flüsternd, sodass es nur die Großmutter wahrnehmen konnte, sagte sie höflich: »Danke ja«, und fügte schnell hinzu: »Ich hoffe, sie nehmen es mir nicht übel, aber ich muss heute früh einen dringenden Weg erledigen und deshalb leider auf das Frühstück verzichten.«
Den Zeitpunkt hatte sie genau richtig gewählt, denn just in diesem Moment verkippte Coren seinen Tee und ihre Gastgeberin kam dadurch zu keiner weiteren Frage.
Schnell nutzte Celestra die Gunst und fand sich auch schon auf der Straße wieder. Wohin soll ich nun? Ihre Blicke wanderten die Gasse entlang, erst hinauf und dann hinunter. Sie warf sich die Kapuze wieder über und verbarg ihren Kopf erneut darin. Wohin sie ihre Füße trugen, war ihr egal, Hauptsache sie verschaffte sich erst einmal Zeit; Zeit ihm nicht sofort unter die Augen treten zu müssen, so aufgelöst, wie sie in diesem Moment noch immer war.
Ziellos irrte sie in den schmalen Gassen Andralons umher. Wovor hatte ich eigentlich Angst? Warum war ich aus dem Haus gerannt, wie ein gejagter Hund? Eben diese und eine ganze Menge anderer Fragen ließen ihre Füße keine Ruhe finden. Noch nie hatte sie solch ein Gedankenwirrwarr in ihrem Kopf erlebt, wie sollte sie auch, sie war ja auch noch nie verliebt!
Dass sie ihre Schritte immer tiefer an die Schattengrenze Andralons trugen, erkannte sie erst, als die Menschen zunehmend düstere Gesichtsausdrücke bekamen. Der Einfluss fehlenden Lichts hinterließ bereits in fast jedem zweiten diese gräuliche Leichenblässe. Kaum noch ein menschlicher Zug in ihnen verriet, dass sie einst aufrichtige Bürger Andralons gewesen sein mussten. Die finsteren Blicke, die sie ihr nachwarfen, mehrten sich langsam aber stetig.
Es war nicht klug, noch weiter in dieses Schattenreich vorzudringen. Doch diesen Gedanken hätte sie schon eine ganze Weile früher fassen sollen, denn einige dieser zwielichtigen Gestalten hatten sich längst an ihre Fersen geheftet. Verflucht dachte sie, hier kann ich meine Kräfte keinesfalls einsetzen. Es war viel zu gefährlich, von einem der Schattenkrieger entdeckt zu werden, von denen es in Andralon ganz sicher bereits wimmelte. Jedoch war dem, was ihr da im Rücken folgte, in der Rolle einer Frau, unmöglich beizukommen und eine Flucht nach vorn würde sie nur noch weiter in die dunkle Abgeschiedenheit treiben.
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»Schau, was du angerichtet hast!«, die Großmutter war sichtlich betrübt und hielt Coren eine der zwei zerbrochenen Tassen mit den kobaltblauen Rosenmotiven unter die Nase. Es waren ihre geliebten unwiederbringlichen Stücke aus einer vergangenen Welt. Er wusste, dass sie diese immer nur hervorholte, wenn jemand Besonderes im Haus war. Und jedes Mal betrachtet er sie insgeheim mit stolz auf dem Tisch, wenn er zu Besuch kam. Es zeigte einmal mehr, welchen Platz er in ihrem Herzen einnahm. Jetzt standen aber nicht die Tassen oder die Großmutter im Vordergrund, sondern der Gedanke an jene Frau. Er half ihr noch schnell die Scherben vom Boden aufzusammeln, bevor er das Haus fluchtartig verließ, um Celestra hinterherzueilen.
Es waren sicher zehn Minuten oder noch mehr vergangen, seitdem sie im Winkel des Fensters vorbeiging. Warum hatte ich mich nicht danach erkundigt, was sie bei den Großeltern überhaupt suchte?
Das Einzige, was er über sie wusste, war, dass die Großmutter sie ins Herz geschlossen hatte und dass sie schon bald wieder verschwunden sein würde. Doch es kam ihm so vor, als ob da noch etwas anderes wäre. Nicht ohne Grund stand er schließlich jetzt hier auf der Straße und stellte sich diese Frage. Sie hatte irgendetwas Geheimnisvolles, es war wie ein Bann, in den sie mich zog. Ohne es vorher herauszufinden, würde ich auf keinen Fall nach Medina zurückkehren.
Genau wie Celestra blieben auch ihm die merkwürdig aussehenden Gestalten nicht verborgen. An der einen oder anderen Weggabelung blieb er einige Sekunden stehen, schaute hinein, in der Hoffnung jene Silhouette wiederzuerkennen. Die Grenze, an der Andralon langsam ins Reich der Schatten tauchte, lag bereits dicht vor ihm. Immer seltener sah er eine der Fassadenlaternen, deren zögerliches Züngeln kaum noch die Gassen erhellte, obwohl er gerade wenige Minuten unterwegs war. Jetzt verstand er allmählich die Sorgen der Großmutter. Die Stadt stand wirklich kurz vor ihrem Verschwinden in die ewige Dunkelheit. Wohin waren nur all ihre Bewohner? Beherbergte sie doch einst viele Hunderttausende von ihnen. Unmöglich konnten sie sich über Nacht in Luft aufgelöst oder einfach so verschwunden sein. Er hoffte, vielleicht an einer Stelle vorbeizukommen, an der ihm eine Lücke zwischen den Häusern einen besseren Blick über die Stadt erlaubte. Schritt für Schritt meinte man bereits zu fühlen, wie sich die Düsternis ausbreitete und Kälte in einem aufstieg. Es war ihm kaum mehr eine Menschenseele in den letzten Minuten über den Weg gelaufen, hier entlang zog sich die spürbare Grenze zum versinkenden Andralon. Selbst für ihn, der weder Tod noch Teufel scheute, brachte diese Kühle etwas Unheimliches mit sich. Langsam gestand er sich ein, sie in einer der vielen Gassen wahrscheinlich längst verpasst zu haben. Und er drehte sich bereits wieder herum, den Rückweg zu den Großeltern anzutreten, als sich in seinem Rücken mehrere Stimmen ganz plötzlich überschlugen. Deutlich hörte man, wie eine Fensterscheibe splitternd zu Boden ging. Doch die Dunkelheit erlaubte keinerlei klare Blicke, alles spielte sich nur schemenhaft ab. Dafür ließ ihn ein anderes Geräusch genauer aufhorchen. Es war mehr in seinem Unterbewusstsein, als dass er es wirklich erkannte, dieses Klacken hatte er heute schon einmal gehört. Klang das nicht gerade wie die Schritte jener Frau, fragte er sich. Erst jetzt registrierte er das Geschehen um sich herum genauer. Jemand war aus einem Fenster gesprungen und gerade dabei, sich wieder aufzurappeln. Die Gestalt dort am Boden ließ ihn keinen Moment länger zögern. Mit riesigen Schritten stand er auch schon bei ihr.
Er sollte sich nicht getäuscht haben. Ihre Silhouette war unverwechselbar, doch für Gedanken dieser Art war hier kein Platz, denn schon schlich ein weiterer Schatten vorsichtig um das Haus herum, aus dem sie gerade gesprungen kam. Corens plötzliche Anwesenheit irritierte den zweiten offensichtlich, da sich sein Handeln verlangsamte. Mehr Einblicke ließ die Dunkelheit nicht erahnen, doch ganz sicher wartete er nur auf etwas oder jemanden. Jede Faser von Corens Körper war aufs Äußerste angespannt. Seine muskulöse Statur allein verriet, was jenen blühte, die es wagen würden, sich ihr zu nähern. Da passierte es doch. Der Schatten über ihnen verlor seinen Halt an dem zerbrochenen Fenster und stürzte zu ihnen herab. Blitzschnell ballte sich Corens Hand zu einer Faust. Sie schnellte empor und verpasste der Gestalt noch im Flug einen Schlag, der sie wie einen nassen Sack zu Boden schmetterte. Auf dieses Zeichen schien der Schatten an der Hauswand nur gewartet zu haben. Er war noch während des Sturzes des anderen aus seiner Deckung hervorgesprungen, um ebenfalls über Coren herzufallen. Doch das jähe Ende seines Kameraden vor Angesicht riss er sich in seiner eigenen Vorwärtsbewegung zur Seite, stolperte kurz und verschwand dann genauso schnell, wie er gekommen war. Coren blieb jedoch weiterhin über Celestra gebeugt, denn wenn er sich nicht täuschte, lungerte hier im Dunkeln eine weitere Gestalt.
Minuten verstrichen und noch immer hockte Celestra am Boden, Corens Hand ruhte schützend auf ihr, doch nicht ein Geräusch durchbrach mehr die Stille. Trotz der Spannung, die weiterhin in ihren Adern floss, hätte man in jedem der beiden Gesichter erkannt, dass sie mit dem nächsten Moment nicht verstanden, umzugehen. Seine Hand, die sie soeben noch am Boden hielt, bot er ihr jetzt zum Erheben an. Das Haupt, verborgen in ihrer Kapuze, stand sie aufrecht vor ihm. Doch kein Wort kam über ihre Lippen. Sein noch immer vom Kampf erregter Atem berührte ihre Haut. Das war er nun, der Moment, vor dem sich Celestra so gefürchtet und ihn genauso sehr herbeigesehnt hatte. Ihre Augen ruhten, zu winzigen Schlitzen zusammengepresst, auf jede seiner Bewegungen. Alles rings um sie herum war ausgeblendet. Es gab in diesem Augenblick nur sie und ihn. Wie zerbrechlich ihre zarte Hand in der meinen wirkte. Zögernd löste Coren sie von ihr, doch nur um sie im nächsten Moment in seinen noch immer von der Anspannung gezeichneten Armen hinaus aus der Dunkelheit zu tragen. Zurück im Licht Andralons, ließ er sie herabsinken und griff schon im nächsten Moment bereits nach ihrem Umhang. Langsam wich der Schleier der Nacht aus ihrem Gesicht und hervor traten Züge, die seinen Herzschlag verlangsamten.
Wer bist du?, fragten seine Augen, ein Wort zu formulieren unfähig.
Und als ob sie seinen Gedanken verstanden hätte, hauchte sie schüchtern: »Celestra, mein Name ist Celestra.«
Tausend Fragen überschlugen sich in seinem Kopf. Woher kam sie? Was wollte sie ausgerechnet hier an diesem Ort? Warum war das alles gerade geschehen? Ihr Gesicht wendete sich von ihm ab. Etwas geschah darin, was er nicht deuten konnte. Tränen rannen über ihre Wangen.
»Was, was hast du? Wurdest du verletzt?« Seine Stimme klang deutlich verzweifelt.
Sie verneinte es mit einem Kopfschütteln, während sie sich immer weiter von ihm abwandte.
»Dann sag mir doch, warum du weinst,« drang seine Verzweiflung immer stärker werdend in sie ein.
Am liebsten hätte sich Celestra dafür selbst geohrfeigt. Ihr Gefühlsausbruch, die Tränen, sein Mut sie zu beschützen, die Weise wie er sie ansah, waren die Gefühle, die sie bei ihm gesucht hatte und nun nicht in der Lage, war damit umzugehen. Er nahm mit nur einem Blick ihr Herz in seine Hände und füllte es mit seiner ganzen Art aus. Auch wenn sie es schon lange vor ihm wusste, zeigte erst diese erste Sekunde, was er ihr für den Rest ihres Lebens bedeuten würde.
Nach wenigen Wimpernschlägen, die Coren aber wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte sie sich endlich wieder gefasst. Mit der einen Hand streifte sie sich die Kapuze wieder über ihren Kopf, griff dabei mit der anderen sanft nach der seinen. Er verstand erst nicht, bis ihre zarten Lippen die seinen berührten. Das war zwar nicht sein erster Kuss und doch war er so anders, als alle anderen jemals zuvor. Er fühlte sich so unglaublich sanft an. So konnte nur eine Frau einen Mann küssen. Nie zuvor hatte er sich als dieser betrachtet, doch jetzt tat er es. Ihre fraulichen Formen waren ihm schon vorher aufgefallen, doch mit keiner Silbe hätte er über so etwas nachgedacht. Von einer Minute auf die andere hatte sich seine Welt verändert. SIE hatte sie verändert!
»Danke mein Held«, flüsterte Celestra, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander lösten.
Kaum dass er seinen Blick von ihr nahm, fand er auch seine Stimme wieder und wollte von ihr wissen, was sie denn an so einen gottverlassenen Ort führte. Sich aus den Fingern saugend, log sie ihm eine Geschichte vor, in der Vergangenheit hier gewohnt zu haben. Er brauchte sie nicht einmal anzusehen, um zu erkennen, dass sie ihm nicht die Wahrheit erzählte. Celestra erkannte sein Zweifeln.
Also fügte sie schnell hinzu: »Natürlich als dieser Teil Andralons noch nicht in der Schattenwelt verschwunden …«
Weiter kam sie nicht. In Corens Gedanken entstand bereits eine abwegige Frage. Wie konnte sie mir schon zum zweiten Mal auf eine Frage antworten, ohne dass ich ihr diese stellte? Liest sie etwa meine Gedanken? Tat sie es auch gerade jetzt und würde sie meine Zweifel an ihr erkennen?
Eine Idee schoss ihm in den Kopf und schon sah er vor seinem inneren Auge ihre fraulichen Formen. Wenn sie tatsächlich in seinen Gedanken las, sollte er es gleich an ihrem Blick erkennen können.
Just in diesem Moment beugte sie sich mit einem Ruck nach vorn, um unbeholfen an ihren Schuhen herumzuspielen. Seine Gedanken stiegen ihr unter die Haut. Nein, es waren seine Hände, die sie packten, ihre Schultern, ihren Umhang. Darunter trug sie nur eine hauchdünne Tunika, gehalten von einem Nichts aus Trägern. Würde ich jetzt in seine Gedanken eingreifen, wäre mein Geheimnis durchschaut. Also bleibt mir nur der Versuch, meine körperliche Erregung zu unterdrücken, sie zu kontrollieren!
Seine Finger bereits unter ihren Trägern schob er sie behutsam über ihre Schultern hinweg und ließ sie fallen. Langsam glitt der Stoff auf ihrer nackten Haut herab, blieb, wenn auch nur Sekunden, an ihren Brüsten hängen, doch Corens Finger ließen es nicht zu. Celestra verbarg ihre Augen vor seinem Blick, der begehrlich an ihr herunter wanderte. Kräuselnd schwollen ihre Knospen, als seinem Blick nun auch noch seine Hände folgten. Wenn sie ihm jetzt nicht schnell seine Grenzen aufzeigte, würde sie ihm bald schon verfallen. Noch immer am Boden hockend und mit den Fingern an ihren pastellfarbenen Sandaletten spielend, schaute sie seitlich an ihm herauf und erkannte ihre Chance. Er stand ihr zum Greifen nah, aber völlig abwesend in seinen Gedanken, sodass sie ihm, natürlich ganz aus Versehen, den Ellenbogen in den Bauch rammte. Sein schmerzhafter Aufschrei unterbrach seine verschlingenden Gedanken und Celestra schüttelte endlich das Gefühl des nackt vor ihm Stehens von sich ab.
Im Hintergrund schlug eine Kirchturmuhr vier Mal. Wo war bloß die Zeit seit den Morgenstunden geblieben, dachte Coren. Eine zarte Berührung von ihr riss ihn wieder aus diesen Gedanken.
»Ich muss jetzt wirklich gehen,« und ihre Hand verließ die seine nur zögernd.
Coren tat völlig entsetzt. »Nein, ich kann dich nach alle dem nicht einfach so ziehen lassen.«
Doch insgeheim wusste er ja, wohin sie gehen würde. Und er würde sie, natürlich nur rein zufällig, am morgendlichen Frühstückstisch der Großeltern wiedertreffen.
»Werden wir uns wiedersehen?«, fragte er so, als ob er es nicht schon lange wüsste.
Worauf sie seine Hand erneut in die ihre nahm und sich zu ihm hinüber beugte.
»Ich glaube schon«, versprachen ihre Augen und Lippen gleichzeitig.
Und mit einem letzten flüchtigen Kuss auf seine Wange entschwand sie seinem Blick, jedoch nie mehr aus seinem Herzen.
Kaum war sie aus seinen Augen in einer der Gassen verschwunden, schlich er sich vorsichtig zu dem Haus seiner Großeltern. Er klopfte leise an das Küchenfenster, nachdem er sich versichert hatte, dass Celestra nicht zufällig dahinter stand.
»Warum kommst du nicht herein?«, fragte ihn die Großmutter.
»Nein«, winkte er ab und log ihr vor, er müsste noch etwas Wichtiges mit mir besprechen, was keinen Aufschub gewährte.
Dabei wollte er ihr heute Abend nur nicht noch einmal über den Weg laufen. Sie wäre sicher nicht begeistert herauszufinden, dass unser Aufeinandertreffen gar kein Zufall war. Coren verabschiedete sich, worauf sie ihn mit beiden Händen links und recht am Kopf packte und zu sich durchs Fenster herein zog. Sie drückte ihm einen Schmatzer zum Abschied auf die Wange und dachte, sei bloß vorsichtig mein Junge. Auch wenn er lange schon kein Kind mehr war, blieb diese Stadt trotzdem gefährlich und er für immer ihr kleiner Sonnenschein. Seine Schritte in ihren Ohren schon verhallt, doch noch nicht aus ihrer Gasse, blickte er zurück zu jenem Fenster, hinter welchem Celestra vielleicht schon eingeschlafen war. Voller Vorfreude auf den morgigen Tag hüpfte ihm fast das Herz aus seiner Brust und er bekam dieses Lächeln für den Rest der Nacht nicht mehr aus seinem Gesicht.
*
Die letzten Stunden zeigten noch deutliche Spuren, denn von wirklichem Schlaf konnte, weiß Gott, nicht die Rede gewesen sein. Lag er doch die halbe Nacht wach auf seinem Bett, um Löcher in die Decke zu starren. Wie frage ich sie nur am besten, ob ich mir mehr von diesem einen Kuss versprechen darf?
Seine Füße trugen ihn noch niemals so schnell in die Gasse der Großeltern. Kaum in sie hineingebogen, fuhr sein erster Blick hinauf zu ihrem Fenster. Dahinter war es noch dunkel und er atmete auf.
Hinter dem leicht angelehnten Küchenfenster roch es bereits nach Großmutters lieblichen Kräutertee. Zaghaft, um niemanden im Haus dabei aufzuwecken, klopfte er gegen die in den Jahren schon milchig trüb gewordene Scheibe. Die Großmutter fuhr leicht erschrocken herum.
»Junge, du bist aber heute früh dran«, rief sie, nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte. Noch während sie ihm an der Eingangstür flüchtig einen Kuss auf die Wange gab, fuchtelte sie mit den Armen. »Erschreck‹ mich bloß nie wieder so.«
Doch Coren fragte sich etwas ganz anderes, seit er in der Küche stand. Er konnte sich täuschen, aber hier sah alles so aus, als hätte schon jemand gefrühstückt.
Um nicht direkt nach dem Gast zu fragen, legte er einen gelangweilten Ton in seine Stimme und sagte: »Hörte ich da nicht gerade ein Geräusch aus der oberen Etage? Haben wir jetzt doch den Großvater oder euren Gast mit unseren Stimmen geweckt?«
Ihre Antwort darauf, ihr Gast sei bereits vor mehr als einer Stunde aufgebrochen, war wie ein Treffer in die Magengrube.
»Was meinst du mit aufgebrochen? Wohin aufgebrochen?« Jetzt lag nichts Gelangweiltes mehr in seiner Stimme. »Hat sie gesagt, wann sie wieder zurück sein wird?«
Sein Blick verriet ihn nun vollends.
»Mein Junge, woher kommt so plötzlich dein Interesse an dieser jungen Frau? Du kennst sie ja nicht einmal.«
»Großmutter bitte! Kannst du mir einfach sagen, wann sie wieder hier sein wird?«
»Nein das kann ich nicht. Sie hat all ihre Sachen dabei gehabt, als sie ging und sich für die Gastfreundschaft bedankt. Ich gehe nicht davon aus, dass sie noch einmal zurückkehren wird.«
Coren schaute nach links, dann nach rechts. Angestrengt versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen. Nichts, da war nichts. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, einen Faden zu spinnen. Das kann nicht sein, so darf es nicht enden. Ich weiß nicht, was ich für sie empfinde.
Eigentlich wusste er es schon, er wollte es sich nur nicht eingestehen. Jeder Gedanke, jedes Gefühl in ihm fing mit ihrem Namen an. Hilflos saß er der Großmutter gegenüber am Küchentisch und sprach nicht ein einziges Wort mehr.
»Was ist nur los Junge?«, fragte sie nach einer Weile. »Seit gestern bist du wie ausgewechselt. Das hat nicht zufällig was mit unserem Gast zu tun?«
Er sah zwar zu ihr herüber, doch drangen ihre Fragen nicht in sein Ohr. Sein Blick ging durch sie hindurch.
»Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«, murmelte sie.
Wo sollte ich nur suchen? Warum habe ich sie gestern einfach so gehen lassen?
Am liebsten würde er losheulen, doch gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, bei seiner Großmutter am Tisch zu sitzen. Nach einiger Zeit stand er wortlos auf, ging zu ihr auf die andere Seite des Tisches, küsste sie auf beide Wangen und verließ das Haus.
Hier war er nun, ohnmächtig gleich welchem Gefühl. Wohin war das Hüpfen, das Springen in meinem Herzen? Alles war gegangen. Gegangen mit ihr!
Die Tage vergingen am Anfang nur sehr schleppend. Seine Gedanken kreisten um jene wunderschöne Erinnerung, gefangen wie in einer Sanduhr. Doch im Laufe der darin verrinnenden Zeit verblasste auch das Bild von ihr immer mehr, bis es schließlich ganz verschwand und nur noch ihren Name übrig ließ.
Coren war noch oft an den folgenden Tagen bei den Großeltern eingekehrt, doch Celestra würde wohl für immer nicht mehr als eine Erinnerung bleiben.